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No Limits - No Rules - No Fear - Part 4

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AsaRoevardottir's avatar
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Ari drückte die Tür leise ins Schloss und sah sich einen Moment hilflos um. Ihr Blick fiel auf einen unauffälligen Stoffbeutel, der einsam über der Lehne ihres Schreibtischstuhls hing. Langsam nährte sie sich, ging in die Hocke und griff in die Tasche. Ihre Hand berührte glattes Gewebe und sie schluckte schwer. Mit zitternden Lippen, fischte sie ein schwarzes T-Shirt aus der Tasche und drückte es sich ins Gesicht. Sie atmete tief ein und warf sich damit auf ihr Bett.

Mit dem Shirt kuschelnd, rollte sie sich zusammen und versank in bitter süßen Erinnerungen. Sollte sie noch einen Versuch wagen, dieses vermaledeite Missverständnis aus der Welt zu räumen oder war es längst zu spät? Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie sich auf dem Dach begegnet sind und die Nacht miteinander verbrachten hatten.

Die Stimme ihrer Mutter drang gedämpft durch die Tür. Sie telefonierte. Wie Ari selbst, hatte auch Cornelia die Angewohnheit, währenddessen durch die Wohnung zu spazieren. Sie klang besorgt und riet irgendjemandem zu einem Arzt zu gehen oder besser gleich ins Krankenhaus, weil ihre Dienste nicht mehr ausreichten, um zu helfen. Ari runzelte die Stirn. Sprach sie etwa über Tom? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Das konnte eigentlich nicht sein, denn sie kam ja gerade von ihm und meinte zu Ari, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging und schon wieder wird. Ihre Mutter stand direkt vor ihrer Tür, als sie sich am Telefon verabschiedete. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt und Cornelia steckte den Kopf ins Zimmer.

„Schläfst du?"
„Mh-mh", verneinte Ari und drehte sich träge zu ihr um, Toms Shirt noch immer an die Brust gedrückt.
„Gehst du Übermorgen noch mal bei deinem Freund vorbei?"
„Er ist nicht mein Freund."
„Ja, was auch immer, du weißt schon. Check ihn einfach noch mal."
„Mkay..." Sie runzelte die Stirn und wich ihrem Blick aus.
„Etwas weniger Begeisterung, bitte."
Ari grummelte etwas Unverständliches.
„Wär's dir lieber wenn ich gehe?"
„Nein", kam es wie aus der Pistole geschossen und Cornelia grinste zufrieden.
„Gut. Ich hau mich jetzt hin. Meine nächste Schicht fängt 21 Uhr an. Wenn du Hunger hast – ich hab Kuchen aus dem Krankenhaus mitgebracht. Michaela hatte Geburtstag."

Ari nickte nur und ihre Mutter verzog sich in ihr Schlafzimmer. Sie ließ den Kopf wieder auf ihr Kissen sinken, zog die Decke über sich, knüllte sich das Slipknot-Shirt vors Gesicht und schlief ebenfalls ein.

Die folgenden beiden Tage vergingen dank der Arbeit in der Praxis wie Flug. Ari blieb beide Male freiwillig länger, weil sie sich fürchtete mit ihren Gedanken und Ängsten allein zu sein. Sie half der Tierärztin beim Impfen, Bandagieren von verletzten Pfötchen, Festhalten und Beruhigen ihrer pelzigen Patienten. Die Arbeit lenkte sie ab und Dr. Tomalik war ihr doppelt dankbar, da eine Festangestellte krank war. Bevor sie sich am Abend verabschiedete, bat sie ihre Chefin am nächsten Tag eine verlängerte Mittagspause machen zu dürfen, da sie einen wichtigen Termin hatte. Dr. Tomalik hatte wie erwartet keine Einwände und entließ ihre Praktikantin in den Feierabend. Wie am Abend zu vor ging sie über Umwege nach Hause und wie zufällig führte ihr Weg sie ganz in der Nähe von Toms Wohnung vorbei. Sie hielt inne und sah zu den erleuchteten Fenstern im dritten Stock auf. Sie stellte sich eine dunkle Silhouette vor, die am Fenster innehielt, hinaus sah und ihre sehnsüchtigen Blicke erwiderte. Doch niemand ging vorbei und Ari riss sich los und lief nach Hause.


Je näher ihre Pause am nächsten Tag rückte, um so nervöse wurde das Mädchen. Sie hatte den Stoffbeutel in ihren Spint gesperrt, bereit, das T-Shirt endlich seinem Besitzer zurückzugeben. Gegen halb 12, nachdem gerade ein Hund mit entzündeten Ohren versorgt worden war, sie dem Besitzer eine antibiotische Salbe und den Rat, zukünftig auf Futter mit Getreide zu verzichten, mitgegeben hatte, verschwand Ari in den kleinen Umkleideraum und zog sich um.
„Ich geh jetzt", rief sie der Sprechstundenhilfe zu. Die nickte bloß, winkte kurz und widmete sich wieder einer nervösen Katzenhalterin und dem Fellknäul, das aus seinem Tragekörbchen heraus maunzte.

Auf dem Weg zu Toms Wohnung wurden Aris Schritte immer langsamer und ihre Nervosität steigerte sich ins Unerträgliche. Ihre Hände waren schweißnass und das Herz schlug ihr bis zum Halse. Mit weichen Knien erklomm sie die Stufen vor der Haustür und starrte auf das Klingelschild. Tief durchatmend hob sie schließlich eine zitternde Hand und presste den Zeigefinger auf den runden Klingelknopf.
Es dauerte über eine Minute, die sich auf Stunden zu dehnen schien, bis es leise im Lautsprecher knackte.

„Hallo?"
Aris Herz setzte aus. Tom war an der Gegensprechanlage. Sie hatte so auf seine Mutter gehofft.
„Ähm...", begann sie stotternd. „Hier ist Ari... -el." Eine Eingebung ließ sie, mit etwas Verspätung, ihren vollen Namen nennen, statt wie gewohnt die Abkürzung. „Meine Mutter, Cornelia, schickt mich, um noch mal nach dir zu sehen."

Stille. Ari hielt gebannt die Luft an. Das Herz rutschte ihr immer tiefer in Hose und sie glaubte jeden Moment umzukippen, als Tom endlich antwortete.

„Verschwinde! Ich will dich hier nicht haben. Ich brauch' dich nicht."

Und damit legte er auf. Das Knallen des Kunststoffhörers riss Ari aus ihrer Starre. Baff und tief verletzt ging sie die Treppen steifbeinig wieder herunter. Jeder Kraft beraubt setzte sie sich für einen Moment auf die kalten Stufen. Die Worte hatten sie tief getroffen und den mühsam aufgebrachten Mut völlig zerschmettert. Sie empfand seine Reaktion als zu tiefst ungerecht. Und statt los zu heulen, schluckte sie die Tränen empört herunter und steigerte sich bewusst in die Wut, die seine Worte geweckt hatten. Sie verliehen ihr neue Kraft und ordentlich angepisst stopfte sie die Tasche mit Toms Shirt durch den Schlitz des Briefkastens. Nach kurzem Zögern, griff sie schließlich noch in ihre Tasche, wühlte nach Stift und Papier und begann aufgebracht eine kurze Nachricht.

„Nicht, dass es noch von Bedeutung wäre, aber was du damals geglaubt hast zu sehen, war etwas völlig anderes! Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, auf mein Rufen zu reagieren, hätte ich dir gleich sagen können, dass es mein Cousin war (den ich nur sehr selten sehe) der mich abgeholt hat. Nur, dass du es weißt! Und ich hab BTW versucht, dir dein T-Shirt zurückzubringen. Mehrfach, denn ich wollte dich wieder sehen! Beim letzten Mal war ich aber wohl zu spät, denn du warst wie vom Erdboden verschwunden und keiner wusste wohin."

Ohne ihren Namen unter die Nachricht zu setzten, knüllte Ari den Zettel zu dem Stoffbündel. Gerade rechtzeitig, bevor die dicken Tropfen des einsetzenden Regen ihre Worte verwischen konnten, die der Kerl am Ende noch als Tränen missdeuten würde. Sie schulterte ihre Tasche, zog sich die Kapuze ihres schwarzen Mantels tief ins Gesicht und rannte zurück in die Praxis.

~ ~ ~

„Hey Schatz, bin wieder zu Hause", rief Katrin mit schwacher Stimme. Tom kam sofort aus seinem Zimmer, um ihr Tasche und Mantel abzunehmen. Die Sachen waren nass vom Regen, der seit heute Mittag nicht abgenommen hatte.

„Hey Mama, und was hat der Arzt gesagt?"
„Ach noch nicht wirklich viel“, meinte sie etwas aus der Puste und stellte einen riesigen zitronen-gelben Schirm aufgespannt hinter sich in den Flur. „Es waren noch nicht alle Testergebnisse da und ich hab noch einen Termin für ein MRT bekommen. Aber erst ins zwei Wochen. Vielleicht ist es ja gar nicht so wild, wenn sie mich so lange warten lassen." Sie bückte sich und hob einen hellen Stoffbeutel auf. „Übrigens, das hier war im Briefkasten."

Die Frau reichte ihrem Sohn die Tasche und ein zerknittertes Stück Papier. Erstaunt nahm Tom beides entgegen, faltete den Zettel auseinander und überflog die handgeschriebenen Zeilen. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit jedem Wort. Schließlich warf er einen Blick in den Beutel. Ein schwarzes T-Shirt. Er musste es nicht herausholen, um zu wissen, was für ein Shirt das war. Sein Mund war plötzlich trocken.

„Nicht, dass es noch von Bedeutung wäre...", murmelte er.
„Alles in Ordnung, Tommy?", fragte seine Mutter besorgt und sah ihn mitleidig an. Es war offensichtlich, dass auch sie die Nachricht gelesen und vermutlich die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Sie trat auf ihn zu und zog ihn in eine liebevolle Umarmung. Tom schüttelte den Kopf, als wolle er auch die Gedanken aus sich heraus schütteln.
„Ja, ja, passt schon."

Doch er erwiderte die Geste und drückte die kleinere Frau sanft an sich. Sie fühlte sich so dünn und zerbrechlich an. Auch ihre Haut erschien immer blasser und glänzte wächsern.
„Sei nicht stur und geh zu dem Mädchen. Egal was war, das lässt sich sicher klären", versuchte sie ihn aufzumuntern.
„Nein, ist schon gut so. Ich hab weder Bock noch Zeit für Frauenstress. Mir reicht eine Frau, die mir Kopfzerbrechen bereitet." Er zwinkerte ihr unbeschwert zu und drückte ihr einen Kuss auf den langsam ergrauenden Schopf.
„Du solltest wegen mir nicht auf alles verzichten müssen", sagte sie mit belegter Stimme.
„Ist schon okay, Mama. Leg dich hin, du siehst müde aus. Ich häng dann die Wäsche auf und hol dich, wenn das Abendessen fertig ist."
„Danke, mein Lieblingssohn."

Er antwortete nur mit einem schiefen Lächeln und zog sich in sein Zimmer zurück. Er schloss die Tür hinter sich und atmete schwer. Er hockte sich im Schneidersitz auf sein schmales Bett und strich das Stück Papier, das er bis dahin fest in der Faust gehalten hatte, auf seinem Oberschenkel glatt. Still las er die wenigen Worte noch einmal. Dann griff er in den Beutel und holte sein Slipknot-Shirt heraus. Versonnen betrachtete er den ausgeblichenen Druck.

Er ließ sich zurück auf die Matratze fallen und legte es sich übers Gesicht. Es roch nach ihr. Sie hatte es gewaschen, vielleicht sogar noch einige Male getragen. Mit geschlossenen Augen genoss er den Duft und alte Erinnerungen von ihrer gemeinsamen Nacht überschwemmten ihn. Mit einem Ruck riss er sich das Shirt vom Gesicht, bevor es noch mehr in ihm auslöste und schleuderte es quer durch den Raum, auf einen Haufen Wäsche.

Auch wenn es wehtat, er bereute seine harschen Worte vom Mittag nicht. Selbst wenn seine Mutter recht hatte, und Ari und er die Situation klären und dieses letzte halbe Jahr vergessen könnten, war es dafür zu spät. Er hatte inzwischen ganz andere Probleme und konnte nicht noch eine Frau gebrauchen, die versuchen würde ihn aufzuhalten und drohte, ihn mit ihren Sorgen zu erdrücken und abzulenken.
„Warum, zum Teufel, muss ausgerechnet sie Cornelias Tochter sein?", fragte er sich selbst.
Frustriert erhob er sich wieder und stellte sich vor die Spiegeltür seines Kleiderschranks. Er zog sich sein Shirt aus und warf es dem anderen hinterher, um sich selbst seine Verletzungen anzusehen, zu säubern und mit Salbe zu versorgen. Der Anblick seines lädierten Gesichts entfachte heiße Wut und Scham in ihm. Er hasste die Vorstellung, dass sie ihn so gesehen hatte. Nur mit Mühe hielt er sich selbst davor zurück, auf den Spiegel einzuschlagen.


~ ~ ~

Mai


„RIIIIIING."

Ari blinzelte benommen. Sie war mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte eingedöst. Ihre Wange fühlte sich feucht an.

„RIIIIIING!"

Sie hob langsam den Kopf. Eine kleine Pfütze ihres Speichels schimmerte im gedämpften Licht, wo eben noch ihr Kopf gelegen hatte. „Uurks..." Sie hatte im Schlaf gesabbert und wischte sich mit dem Handrücken über Mund und Wange.

„RIIIIIING!"

Erschrocken wendete sie den Kopf. Das im Flur eskalierende Telefon hatte sie geweckt und verlangte noch immer ihre Aufmerksamkeit. Schwerfällig erhob sie sich, rieb sich die Augen und wankte noch immer schlaftrunken zu dem Störenfried. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: 23:57. Seufzend fragte sie sich, wer die Unverfrorenheit besaß, um diese Uhrzeit anzurufen und hob den altmodischen Hörer vom Gerät.

„Hallo..?" – „Ariel? Es tut mir so leid, dass ich Sie jetzt noch störe? Ich hoffe, Sie haben noch nicht geschlafen?" – „Wer..?" – „Oh, Entschuldigung! Hier ist Katrin, Thomas Mutter? Sie erinnern sich?" – „Oh, ja, sicher. Kein Problem. Alles in Ordnung?" –„Nun ja... nicht so richtig. Es ist wieder wegen Thomas. Ist Ihre Mutter da?" – „Nein, sie hat Nachtschicht. Und bitte, Sie können mich sehr gern duzen! Kann ich vielleicht helfen?" – „Oh, okay, gern. Ach, Ariel, ich weiß nicht. Er ist wieder bei so einem furchtbaren Kampf gewesen und hat sich die Schulter ausgerenkt... und, naja, hat auch sonst einiges abbekommen." – „Verstehe. Meine Mama kommt erst gegen um 7 nach Hause, aber ich kann gerne rüber kommen, wenn Sie wollen. Die Schulter muss möglichst schnell wieder eingerenkt werden." – „Wärst du so lieb?" – „Klar... wenn Tom nichts dagegen hat..." – „Tommy hat sich das selbst eingebrockt und hat gerade nichts zu melden!" – „Hahaha. Na dann. Ähm, haben Sie irgendwelche stärkeren Schmerztabletten?" – „Ja, Ibuprofen 600." – „Geben Sie ihm zwei davon, er wird Höllenschmerzen haben und das Einrenken ist auch nicht unbedingt angenehm." – „Ist gut." – „Okay, bis gleich."

Ari ließ den Hörer auf die Gabel sinken und erinnerte sich an ihr letztes, sehr kurz angebundenes Gespräch mit Tom. Das war inzwischen einige Wochen her, doch er würde sicher dennoch alles andere als begeistert sein, sie über seine Schwelle treten zu sehen. Sie seufzte und griff sich an die Nasenwurzel. Es half alles nichts. Sie hatte versprochen zu helfen und würde jeden weiteren Gedanken oder aufkeimende Emotion unterdrücken müssen.

Ergeben schlurfte sie in ihr Zimmer, schälte sich aus ihren bequemen Kuschelklamotten und tauschte sie gegen Jeans und T-Shirt. Zögernd griff sie einen Pulli und sah zum Fenster. Das Kleidungsstück in der Hand, ging sie raus auf den Balkon zum Temperaturcheck. Die Nacht erwies sich als angenehm lau, doch das Mädchen warf sich den Hoodie trotzdem über die Schulter. Die gut ausgestattete Medi-Tasche ihrer Mutter fand Ari an ihrem Platz, im Schlafzimmerschrank ihrer Mutter. Sie schlüpfte in ihre Vans, warf sich die Tasche über die Schulter und legte den Pullover darauf, löschte das Licht und verließ ihre Wohnung. Ari erwog kurz bei ihrer Nachbarin zwei Etagen tiefer zu klingeln und sie um ihre Simson S51 zu bitten, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, als ihr einfiel, wie spät es schon war.

Sie beeilte sich und lief so schnell durch die Straßen, dass sie fast rannte. Trotzdem war sie gehörig außer Atem, als sie an ihrem Ziel ankam, verschwendete aber keine Zeit damit, Luft zu schnappen, sondern drückte sofort die Klingel. Wie erwartet beantwortete Katrin die Gegensprechanlage: „Ariel?" –„Jap."

Der Summer ertönte, Ari drückte die schwere Tür auf und hechtete die Treppen nach oben. Katrin stand in der Tür und nahm ihr zerknirscht lächelnd die Tasche ab.

„Es tut mir so leid...", begann sie mit dünner Stimme, doch Ari winkte keuchend ab. Sie rang einen Moment nach Luft und betrachtete die kleine Frau. Sie erschien ihr dünner als bei ihrem letzten Besuch. Eine ungesunde Blässe und zeugte von Strapazen, nach denen Ari sich nicht zu fragen traute. Und sie sah unglaublich müde aus. Ari beschloss erst einmal ihre Mutter nach Katrin zu fragen, denn sie wollte der Frau nicht zu nahe treten. Auf Zehenspitzen trat sie in den kurzen Flur und warf einen nervösen Blick ins Wohnzimmer.

„Er ist in der Küche", beantwortete Katrin die unausgesprochene Frage, deutete auf die nächste Tür zu ihrer Rechten und ging voraus. Ari folgte mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und drängte ihre Unsicherheit zurück in die Schatten. Tom stand mit dem Rücken zu den beiden Frauen am Fenster und starrte stumm nach draußen. Er trug ein dunkelrotes T-Shirt, hatte jedoch nur einen Arm durch die Ärmel gesteckt. Der linke hing unter dem Shirt schlaf herab.

„Tommy, Ariel ist hier. Hör auf dich wie ein Arsch zu verhalten und lass dir helfen!"

Der Befehlston der zarten Frau überraschte Ari und ließ sogar ihren Sohn leicht zusammenzucken. Widerwillig drehte er sich langsam und mit gesenktem Kopf um. Seine ganze linke Gesichtshälfte war rot und geschwollen, doch Ari entdeckte zumindest kein Blut. Tom schwieg und mied ihren Blick. Sie fasste ihren Mut zusammen und ging auf ihn zu.

„Hast du schon die Schmerztabletten genommen?", fragte sie und freute sich, dass sie automatisch in den Behandlungsmodus übergangen war und denselben souveränen Ton anschlug, wie bei allen Patienten, bzw. den Haltern ihrer Patienten.

Doch Toms Mund blieb fest geschlossen. Nach einer Sekunde sprang Katrin ein und antwortete für ihren Sohn. „Ich hab ihm zwei Tabletten gegeben, gleich nachdem wir aufgelegt haben."

Ari schluckte die Kränkung, dass dieser Kerl nun nicht mal mehr mit ihr redete, herunter und verschob ihre Empörung darüber auf später. Stattdessen nickte sie verkrampft und drehte sich zu seiner Mutter um. „Ich werde ihm jetzt das Shirt hochziehen", sagte sie absichtlich an Katrin gerichtet. Im Augenwinkel beobachtete sie Tom, der sich bei ihren Worten versteifte.

„Hinsetzten!", befahl sie dem jungen Mann streng und erntete das kurze Flackern eines ungläubigen Blickes. Es löste eine gewisse Befriedigung in ihr aus. Doch er gehorchte schließlich und ließ sich auf einem Holzstuhl am Küchentisch nieder. Mit ruhigen Händen krempelte sie sein Shirt hoch, versuchte verbissen ihn nicht direkt zu berühren, zog es ihm jedoch nicht ganz aus. Sie betrachte seinen Körper und bemerkte, dass er ziemlich an Muskeln zugelegt hatte. Er war früher schon athletisch gewesen, doch jetzt... Sein Hobby sich verkloppen zu lassen, schien auch Muskelaufbautraining zu beinhalten. Es stand ihm. Trotzdem macht dieser Kampfsport ihn nicht attraktiver. Sein Oberkörper war gezeichnet von frischen und bereits verblassenden Blessuren. Ganz zu schweigen von seinem Gesicht. Sie biss sich auf die Lippe und riss sich von seinem versehrten Anblick los.

„Häng den Arm über die Lehne, so dass die Kante in deiner Achsel ist!"

Tom folgte auch dieser Anweisung ohne Widerspruch, doch sein Gesichtsausdruck spiegelte deutliches Misstrauen wieder. Ari ignorierte ihn. Sie hatte vor einer ganzen Weile mal einem Arzt, während eines Praktikums, bei ihrer Mutter im Krankenhaus, dabei zugesehen, der eine Schulter wieder eingekugelt hatte. Sie rief sich die Erinnerung ins Gedächtnis und spielte sie vor ihrem mentalen Auge ab. Ziehen, gleichzeitig drehen und schnapp.

„Das wird jetzt scheiße wehtun, aber halt trotzdem still." Sie wartete nicht auf irgendeine Form der Zustimmung, griff sich mit der Linken sein Handgelenk und mit der rechten Hand seinen Ellenbogen. Sie winkelte Toms Arm vorsichtig um 90 Grad an. „Ich zähl bis drei..."

„Eins!" Ari zog langsam, aber mit Kraft seinen Arm nach oben. Tom biss die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein. Es knackte dumpf und der Knochen sprang zurück in die Gelenkpfanne. Das Mädchen ließ nicht sofort los und legte ihm den Arm wieder leicht angewinkelt an den Körper. Ihre Augen klebten an ihren Fingern, die seine warme Haut berührten und sie erinnerte sich an das Gefühl seines Armes, der sie umschlungen hielt.

„Halt den Arm in dieser Lage und beweg dich nicht." Sie tastete die Schulter ab und wandte sich zu Katrin um. „Er muss eine Schlinge tragen, mindestens eine Woche. Einfach ein Stück Stoff oder Handtuch zu einem Kreis binden und den Arm rein legen. Danach wär eigentlich Physio gut, um die Schulter zu festigen. Die kann er aber auch allein machen, es gibt ein paar ganz gute Videos auf YouTube. Aber langsam und allmählich intensivieren und auf sportliche Aktivitäten sollte erstmal verzichtet werden, sonst ist die Gefahr einer erneuten Ausrenkung hoch. Bei schlimmen Schmerzen kann er Ibus nehmen, aber sparsam. Es gibt auch ein paar homöopathische Sachen die gut gehen, zum Beispiel die Schulter mit Cayenne-Pfeffer und Olivenöl einreiben oder Baldrian oder Rosmarin- oder besser noch Lavendelblütenöl und heiße Umschläge."

Katrin quittierte jedes Wort mit einem dankbaren Nicken und eilte aus dem Raum, als Ari geendet hatte. Das Licht der Deckenlampe ließ ihre Haut bleich und wächsern glänzen, doch Ari verkniff sich die Frage nach ihrer Gesundheit. Sie würde ihrer Mutter jedoch in einen genauen Bericht erstatten, dass sie sich Sorgen um ihre Freundin machte. Katrin kam mit einem weißen Tuch zurück und band es zusammen. Ari machte der Frau Platz, damit sie es ihrem Sohn umlegen konnte.

Mit einer Ruhe und Selbstbewusstsein, die das Mädchen sich selbst kaum zugetraut hätte, griff sie schließlich nach Toms Kinn und hob seinen Kopf an. Überrumpelt ließ er es geschehen und sah ihr einen Herzschlag lang in die Augen. Seine dunklen Augen waren blutunterlaufen, das linke halb zugeschwollen. Ari brach zuerst den Blickkontakt und begutachtete ausdruckslos die Schwellungen.

„Ich rieche kein Menthol! Das Biofreeze ist nicht zum Angucken da", bemerkte sie kalt und ließ Toms Kiefer los.

„Ähm", meldet sich da wieder Katrin kleinlaut zu Wort, und schenkte ihrem sturen Sohn einen bösen Blick, „ich fürchte das Gel ist aufgebraucht."

„Oh", machte Ari nur. „Ich hab leider kein neues dabei. Aber altmodische Kühlung tut's auch."

Sie warf noch einen letzten Blick auf den Mann und fragte sich, warum das Leben so scheiße zu ihr war. Er sah wieder an ihr vorbei aus dem Fenster, offensichtlich wieder entschlossen sie keines Blickes und Wortes zu würdigen. Missmutig wendete sich die Studentin ab. Der Kerl übertrieb es gewaltig, aber sie war es leid ihm hinterher zu rennen. Sein Pech! Ari blinzelte, klärte ihre Gedanken und verließ sie den Raum. Katrin brachte sie zur Tür und reichte ihr die schwere Sani-Tasche. Ari lächelte höflich und bedankte sich mit einem stummen Nicken. Die Frau öffnete ihr die Tür, sie trat hindurch, drehte sich dann aber noch mal zu der blassen Gestalt um.

„Katrin, wenn seine Schmerzen nicht deutlich nachlassen, melden Sie sich bitten. Es sah nicht so aus und fühlte sich nicht so an, als wären Nerven oder Knochen an der Schulter verletzt, doch falls es sich nicht bessert und er weiterhin starke Schmerzen hat, müssen Sie es mich oder meine Mama sofort wissen lassen!"

„Ist gut und vielen Dank, Ariel. Und... bitte entschuldige Toms kindisches Verhalten. Ich weiß nicht was er hat."

„Ist schon gut, er kann mich einfach nicht leiden, schätze ich. Dann gute Nacht."

„Gute Nacht, komm gut nach Hause."

Ari lächelte schwach und machte sich auf den Heimweg. Nachdem sie durch die Haustür getreten war, stellte sie die Tasche ab und zog sich ihren Hoodie über. Es fröstelte sie, doch sie war sich nicht sicher, ob es an der kühleren Nachtluft oder Toms eisiger Stimmung lag. Wenn er nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte, wieso sagt er es ihr nicht einfach, statt dieses alberne Theater aufzuführen. Sie war ein großes Mädchen und würde damit umgehen können. Wenn er weiter diesen sogenannten Sport ausüben wollte, aber nicht zum Arzt wollte, musste er sich damit abfinden, dass seine Mutter nach ihr oder ihrer Mutter rief. Er könnte sogar so tun, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Auch damit würde sie klar kommen. Alles war besser als diese undankbare und beleidigende Art von Ignoranz. Sie verstand den Mann einfach nicht. Waren alle Kerle so bescheuert?
Nach einem halben Jahr und dem unverhofften Wiedersehen, wagt Ari einen zweiten Versuch mit Tom. Wie wird er auf sie reagieren? 

Part 1
Part 2
Part 3

Part 5... coming soon
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Comments2
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Tutziputz's avatar
Hihi, schöne letzte Frage ... ich habe mich dasselbe gelegentlich auch über Frauen gefragt :rofl:

Aber der eigentlich entscheidende Satz, der auch diese Frage - zumindest für diesen Fall - beantwortet steht wesentlich weiter oben: "Er hasste die Vorstellung, dass sie ihn so gesehen hatte."

Es ist weder Arroganz noch Abneigung, die ihn dazu bringt, sich wie ein Arschloch zu verhalten. Es ist die eigene Unsicherheit ... dieselbe Unsicherheit, die einen in der Regel ausgerechnet dann sprachlos macht, wenn man der Frau seiner Träume gegenübersteht ... 

P.S.: Ari, ihr Mutter und ich haben eines gemeinsam. Wir alle können nicht telefonieren, ohne dabei durch die gesamte Wohnung zu laufen :D